Zeit – Bericht aus dem 2. Lehrjahr, April 2020
Zeit ist irgendwie eine verrückte Dimension. Gelebt, gelacht, geliebt – und schwupps ist sie vorbei. Wenn ich aber an einem Freitagnachmittag bei 25 Grad, wie sie es jetzt schon mal sind, mit der vollbeladenen Schubkarre und einem platten Reifen die gefühlte 30°-Steigung des Gartens erklimme – jede/r kennt wohl dieses Phänomen – fühlt sie sich beinahe unendlich an.
So ähnlich geht es mir, wenn ich an unsere Seminargruppe denke. Wann haben wir uns noch das letzte Mal gesehen? Ach ja, im Januarkurs, wo man sich nicht einmal nachts in seelenruhiges Alleinsein begeben konnte. Mindestens genauso ungewohnt ist es jetzt, dass wir seit einer gefühlten Ewigkeit so gar nichts voneinander mitbekommen. Irgendwie nah und verbunden, in dem was wir machen, wie vertraut wir uns sonst sind, aber dann auch wieder sehr weit weg, abgetaucht, versunken.
Dementsprechend fehlt mir leider der Einblick in die verschiedenen Lebenswelten, ich denke jedoch, dass sich manche Dinge vielleicht gar nicht so sehr unterscheiden. Und um noch einmal zu der Zeit zurückzukommen – so fühlt sich dieser Frühling auf dem Hof dieses Jahr sehr intensiv an. Ausdauernd. Ununterbrochen durch die Ausflüge zu anderen Höfen, das kopfüber Eintauchen in die anderen Hofwelten, das Wissen Aufsaugen und Austauschen. Die Wochenenden? Auch auf dem Hof, na klar! Kein Hin und Her zu Freunden und Freundinnen, Familie, Konzerten, Urlaub, Festivals, keine To-Do‘s außerhalb und das Schönste daran? Es fehlt nicht. Die Spatzen singen irgendwie lauter und fröhlicher dieses Jahr. Die Apfelbäume blühen strahlender, die Zitronenverbene verströmt ihren wunderbaren Duft gleich neben den Tomaten- und Basilikumpflänzchen im Anzuchtgewächshaus. Und habe ich mich überhaupt schon einmal so sehr über den ersten knackigen Eichblattsalat gefreut? Vielleicht ist es einfach jedes Jahr aufs Neue der Zauber des Frühlings, des Weltenerwachens. Aber ich glaube, dass es auch etwas mit dieser Krise zu tun hat. Sie verändert die Dimension Zeit, wenn man sie einmal nur unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Noch nie hatte ich bisher das Gefühl, mit dieser Ausbildung so sehr am allerrichtigsten Fleck zu sein – an diesem speziellen Ort, in meiner Ausbildungszeit, im Gesamtzusammenhang von „Mensch im System“. Ver-rückt. So erleben die meisten Menschen wahrscheinlich die Realität im Moment – das erfahren wir tagtäglich in diversen Medien und in unserem Umfeld. Ich erlebe sie aber manchmal auch ganz gerade-gerückt, zumindest in diesem Hofalltag, inmitten der Natur, in diesem pulsierenden Kleinstuniversum.
Marlene – 2. Lehrjahr der Ausbildung im biologisch-dynamischen Landbau im Westen