Rückblick auf die Novembertagung vom 27.10. bis 30.10.2011 „Zukunft durchWurzeln“

600 279 Biodynamische Ausbildung

Bereits im Januar dieses Jahres stand für uns Lehrlinge der dritten Lehrjahre der Freien Ausbildung fest, dass wir uns während der diesjährigen (allerdings im Oktober stattfindenden) Novembertagung mit dem Thema der Zukunft beschäftigen wollen. Die Frage nach der Zukunft ist etwas, was die Menschen in der heutigen Zeit mehr denn je beschäftigt. Zusammen mit dieser Fragestellung tritt allerdings immer ein leises, vielleicht auch unbewusstes Gefühl der Angst auf, da es sich um ein völlig ungewisses Thema handelt, mit dem aber jeder, ob er will oder nicht, existentiell verbunden ist. Und gerade in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und Berufsintegration kann man sich die Frage stellen, inwiefern es überhaupt noch berechtigt ist, davon zu sprechen, dass der Mensch die Zukunft gestaltet – oder ob nicht viel eher die Zukunft es ist, die den Menschen gestaltet und der man sich beugen muss. Diese immer prekärer werdende Fragestellung nach der Zukunft hat aber auch mit sich gebracht, dass wir heute in einer relativ ahistorischen Zeit angekommen sind, die Vergangenheit läuft immer mehr Gefahr, in Vergessenheit zu geraten, und die Frage nach dem „Wohin“ scheint für uns mit einem größerem Interesse verbunden zu sein als die Frage nach dem „Woher“. Rudolf Steiner hat einmal in einem Vortrag geäußert, dass sich die Menschen – insofern sie überhaupt spirituelle Neigungen haben – mehr für das Nachtodliche interessieren, dass aber die Frage nach der Präexistenz, also dem Vorgeburtlichen so gut wie nie aufkommt. Darin drücke sich aber ein verborgener Egoismus aus, weil man das Vorgeburtliche (Vergangenheit) schon hinter sich hat und dem ungewissen Nachtodlichen (Zukunft) nur deswegen ein besonderes Interesse entgegen bringt, weil es einen noch erwartet. Ist es also nicht auch ein verborgener Egoismus, wenn wir uns heute in recht starker Weise für die Zukunft interessieren? Wenn ja, heißt das dann, dass man sich die Frage nach der Zukunft geradezu verbieten und ein anderes Thema für eine Novembertagung suchen muss? Wenn nein, unter welchem Aspekt muss dann die Zukunftsfrage beleuchtet werden, wenn wir keine verkappten Egoisten sein wollen? Diese Frage half uns Goethe zu beantworten, der den für uns entscheidenden Satz formuliert hat, den wir schon im vorletzten Rundbrief im Hinblick auf die Vorbereitungen zur Novembertagung zitierten:

„Wer nicht von dreitausend Jahren,
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib im Dunkeln unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.“

Mit diesen Worten sagt uns Goethe: Wenn du irgend etwas über die Zukunft erfahren willst, so lerne zunächst, in rechter Weise gerade in die der Zukunft entgegengesetzte Richtung , in die Vergangenheit zu blicken – und du bist befreit von jeglichem Egoismus! Nicht um das Aufbauen einer Historie geht es Goethe hier, indem er uns darauf hinweist, dass wir uns Rechenschaft über die vergangenen drei Jahrtausende geben sollen, sondern vielmehr darum, dass wir uns zunehmend als Wesen empfinden lernen, die in einem Zeitenstrom stehen. Mit Beginn unserer Inkarnation treten wir aus dem zeitlosen Dasein in diesen Zeitenstrom ein, der aus der Vergangenheit kommt. Wollen wir diesen Zeitenstrom in der Gegenwart durch unsere Taten in rechter Weise aufgreifen und fortführen, so müssen wir uns erst Rechenschaft geben über die Frage, wo wir überhaupt anknüpfen und was unsere „Wurzeln“ sind. Dann finden wir uns in dieser Welt auch richtig wieder und können unsere Taten so einrichten, dass sie einer geistgemäßen Zukunft entsprechen.
Zukunft durch Wurzeln! Das Motto war gefunden und die Frage nach der Zukunft schien uns unter diesem Aspekt legitimiert. Christian Morgenstern ergänzt in genialer Weise den Inhalt dieses Tagungsmottos, indem er formuliert:

„Es dient ja alles Geschehene der Zukunft.
Alles ist Vorbereitung.
Alle Vergangenheit dient der Zukunft.“

Doch nun zur Tagung selbst. Bereits am Abend vor Beginn der Tagung trafen wir Vorbereiter uns in der Waldorfschule in Hannover, unserem Tagungsort. Die knisternde Erwartung von uns allen durchdrang die ganze Atmosphäre. Die letzte Besprechung und die Koordination der Vorbereitungen vor Ort fand nun statt, dann machten wir uns an die Arbeit, die am nächsten Morgen nach dem gemeinsamen Frühstück fortgeführt wurde. Die Beschilderung des Tagungsgeländes, die Unterkunft der Dozenten, die Dekoration des Empfangs, die Aufteilung der Klassenräume – alles musste nun in wenigen Stunden vorbereitet werden. Dann kamen die ersten Teilnehmer, die Anmeldung wurde eröffnet, die letzten Vorbereitungen wurden beendet, und endlich konnte die Tagung im Festsaal beginnen. Da unser Tagungsmotto unter dem Zeichen Goethes steht, eröffneten wir Vorbereiter die Tagung mit einem Vierstimmigen Lied, das auf einen Text von Goethe komponiert wurde, welches wir im Vorfeld einübten. Dann folgte die Eröffnungsrede eines Lehrlings, eine Begrüßung auf französisch für die 17 Freunde aus Frankreich, die dort ihre Freie Ausbildung gerade abgeschlossen haben und nun als gemeinsamen Abschluss zu uns nach Hannover kommen wollten, und schließlich wurden wir als ganze Tagungsgemeinschaft vom Gartenbaulehrer der Waldorfschule im Namen der ganzen Lehrerschaft begrüßt und willkommen geheißen. Nach dieser festlichen Eröffnung gingen wir alle in die Turnhalle, wo nun der heitere Teil folgte. Um eine Vorstellung zu bekommen, aus welchen Bereichen von Deutschland die Teilnehmer angereist kamen, verteilten wir uns nun unter Anleitung auf einer riesigen Deutschlandlandkarte, die wir uns auf dem Boden ausgebreitet vorstellen sollten. Das Ergebnis hat gezeigt, dass aus nahezu allen Bundesländern Menschen angereist kamen! Im Anschluss daran fand die erste gemeinsame Choreinheit statt. Das Hören auf einander ist ein wichtiger Prozess zur Gemeinschaftsbildung und deshalb fand auch an allen kommenden Tagen jeweils eine vierzig minütige Singeinheit statt. Nun folgte auch schon das erste gemeinsame (Abend-) Essen. Bei insgesamt etwa 300 Leuten war da schon einiges von unserem Koch und seinem Team gefordert (so haben zwei unserer Lehrlinge einmal zusammen 180 Kg Kartoffeln geschält!), aber die gut eingerichtete Schulküche kam der Arbeit auch sehr entgegen. Die räumlichen Gegebenheiten brachten es mit sich, dass wir nicht alle gleichzeitig essen konnten, sondern in zwei zeitlich versetzten Gruppen. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass das gesamte Brot für die Tagungsgemeinschaft für uns vor Ort in der Schulbäckerei gebacken wurde von einem Bäcker und zwei Leuten aus unseren Reihen! Ich glaube, dass das frisch gebackene Brot für uns alle unvergesslich bleibt. Am Abend fand der erste Vortrag statt, gehalten von Herrn Debus, mit dem Titel: „Zukunft wollen und Vergangenheit wissen – die Wirklichkeit ist konkret“. (Alle Vorträge der Tagung waren auch für Interessierte von außerhalb geöffnet.) Der Vortrag bot reichhaltige Anregungen zum Tagungsthema, die auch in den folgenden Tagen immer wieder in verschiedenen Gesprächen aufgegriffen und vertieft wurden. Im anschließenden Nachtcafé herrschte die positive Atmosphäre eines geselligen Beisammenseins, hier war reichlich Gelegenheit für Gespräche und Begegnung. Alternativ hatte man auch die Möglichkeit, gemeinsam mit Herrn Stocker die Sterne zu betrachten.- Und somit konnten wir den ersten Tag als gelungenen Auftakt der Tagung betrachten!
Der folgende Tag stand unter dem Zeichen des Austauschs. Nach dem Wecksingen um sechs Uhr (ein wenig unverschämt für Tagungsverhältnisse, das muss zugegeben werden), dem Frühstück, das um 6.30 Uhr begann und der Choreinheit trafen wir uns in der Turnhalle. Hier bildeten wir Fünfergruppen, die möglichst aus Leuten bestehen sollten, die sich noch nicht kennen. In diesen Gruppen hatten wir nun eineinhalb Stunden Zeit, in ein vertieftes Gespräch zu kommen, zu diskutieren und philosophieren. Es war uns Vorbereitern ein Anliegen, dass die Inhalte nicht nur in passiver Weise aufgenommen werden, sondern dass es auch die Möglichkeit gibt, in aktiver Weise die Inhalte und Fragen, die einen beschäftigen, zu bewegen. Nach einer kurzen Pause von 15 Minuten ging es auch schon wieder weiter: mit den Kurzbeiträgen. Wir hatten einen Zeitrahmen von insgesamt 90 Minuten, wo verschiedene Tagungsteilnehmer bzw. -gestalter die Möglichkeit hatten, etwas von sich vorzustellen: ein Projekt, eine Jahresarbeit, eine wichtige Idee. Jedem Darsteller standen für seinen Kurzbeitrag maximal fünf Minuten zur Verfügung. Bis zum Mittagessen hörten wir immerhin 16 Beiträge über die aller verschiedensten Gebiete! Am Nachmittag begannen dann die 16 Kurse mit den jeweiligen Dozenten, die wir eingeladen hatten. Zwei Kurse wurden in Englisch gehalten und mit Eurythmie, Folkstanz und Chor hatten wir auch drei kreativ-künstlerische Kurse im Angebot. Der Vortrag am Abend wurde von Herrn Dr. Vahle gehalten: „Der dreigliedrige Hoforganismus der Zukunft und seine pflanzensoziologischen Wurzeln“.
Der nächste (und zugleich vorletzte) Tag war im Wesentlichen von den Kursen geprägt, die Anregungen und Vertiefungen auf den allerverschiedensten Gebieten ermöglichten. Der Vortrag am Abend wurde von Herrn Wenz gehalten: „Gut mit Rindern arbeiten: Low-Stress-Stockmanship“. Der Ausklang des Tages hat gezeigt, dass sich nun wirklich eine Tagungsgemeinschaft gebildet hat: es fand nicht nur die angekündigte Party statt, sondern es bildeten sich teilweise auch Gruppen zum Singen, im Schulinnenhof trafen sich Leute zum Folkstanz und das Nachtcafé war wie immer gut besucht. Es war eine glückliche Fügung, dass gerade in dieser Nacht die Uhr umgestellt wurde, denn das bedeutete, dass man eine Stunde länger schlafen konnte – und das kam wohl den meisten Mitgliedern der Tagungsgemeinschaft sehr entgegen-¦
Nach dem am nächsten Morgen von Frau Dr. Idel gehaltenen Vortrag „Kuh und Grünland – Lokale und globale Aspekte einer Symbiose“ begann nach einer kurzen Pause unser feierlicher Abschluss mit einem vierstimmigen Lied, das wir in den vergangenen Tagen mit einander übten. Dann folgten während der nächsten 90 Minuten die Beiträge aus den Kursen in Form von humorvollen Sketchen oder Kurzbeiträgen. Nach der Dankesrede eines Lehrlings wurde die Tagung durch ein weiteres Lied, das wir alle gemeinsam sangen, offiziell beschlossen.
Rückblickend kann gesagt werden, dass enorm viel geleistet wurde, um diese Tagung überhaupt zustande zu bringen. Und zwar nicht nur von den vorbereitenden Lehrlingen, sondern auch von den Dozenten, Referenten, dem Lehrerkollegium, das uns die Schule zur Verfügung stellte, den Köchen und Bäckern, und nicht zuletzt auch von unseren vielen Spendern, ohne deren Hilfe solch ein Projekt ebenfalls niemals hätte zustande kommen können. Somit sei an dieser Stelle allen Mitwirkenden ein herzlicher Dank ausgesprochen; sie können als die „Wurzeln“ unserer Tagung angesehen werden! In diesem Sinne kann nun dieser Bericht auch wieder mit einem Spruch von Goethe abgeschlossen werden, wo ein wichtiges Prinzip unserer Unternehmung ausgesprochen wird:

„Ein einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt.“

Johannes Tritschler, 3. Lehrjahr, Hessen (11.11.2011)

 

Die Vorbereiter

11.November 2011